Nebel im August: Leseprobe
Hier sind die vergessenen Kinder. Sie bekommen nie Besuch, keine Mütter, Väter, Onkel, Tanten bringen Kuchen oder eine selbstgestrickte Wolljacke. Sie sind einfach hier abgegeben worden und dann verloren gegangen. Und weil man sie vergessen hat, vergessen sie sich selbst. Sie verschwinden, werden immer dünner, immer durchsichtiger. An einem Morgen dann ist ihr Bettchen leer, und ein neues Kind wird hineingelegt.
Nur einmal kommt eine Mutter, besucht den kleinen Martin. Sie schaut sich ständig um und geht leicht geduckt durch die Reihen der Betten wie ein Dieb, der nicht gesehen werden will. Sie schämt sich für Martin, der nur den ganzen Tag daliegt und hin und her wippt, sich mit seinen dünnen krummen Beinchen vom Bettrand abstößt und zurückfedert, abstößt und zurückfedert wie ein Mobile. Martin ist neun und liegt trotzdem wie ein Säugling in der Wiege, schleckt immer den linken Handrücken ab, bestimmt ist er auch Linkshänder, schluzt an dem Handrücken und sabbert alles voll. Als seine Mutter kommt, ist er auf einmal ganz still, hört auf zu wippen und federn und schluzen, als hätte man ihn abgeschaltet. Dann streicht die Mutter über seinen Kopf und seine großen Augen folgen der Hand hin und her mit offenem Mund. So sitzt sie vielleicht eine Stunde da. Mit ihrem Taschentuch putzt sie immer wieder zuerst Martins Sabbermund, dann ihr Gesicht ab. Als sie geht, gibt sie der Wörle ein kleines Paket. Sie hat rote Augen. Martin fängt wieder an zu wippen und federn und schluzen, schlimmer als zuvor.
Die Wörle tätschelt der Mutter den Arm und sagt ihr, sie muss sich keine Sorgen machen, ihr kleiner Martin sei hier bestens aufgehoben und werde gut versorgt, und die Mutter gibt ihr zu dem Paket noch fünf Mark.
Mina Wörle ist die Oberschwester im Kinderhaus, sie ist klein und untersetzt und zu Besuchern immer freundlich. Ansonsten ist sie zugeknöpft und streng, redet auch mit den anderen Schwestern nur das Nötigste. Die anderen lästern über die Chefin und ihr Getue, aber nur wenn sie nicht da ist. Ernst ist die Wörle von Anfang an unheimlich, vor allem wegen ihrer kalten Augen. Sie hat einen Blick, bei dem ihm kalt wird und der überhaupt nicht zu ihrer freundlichen Stimme passt.
Das Kinderhaus ist am unteren Ende des Parks, gut 100 Meter weg vom Haupthaus. Manchmal darf Ernst mit Schwester Erika hochgehen und helfen, das Essen zu holen oder Wäsche wegzubringen. Das ist eine Ehre, aber Erika sagt, Ernst ist auch der einzige auf der Station, den man zu sowas brauchen kann. Da hat Erika recht, denn die anderen sind alle nicht richtig im Kopf oder verkrüppelt oder gelähmt oder blind oder alles zusammen. Es sind 40 Kinder im Schlafsaal und viele von ihnen kommen den ganzen Tag nicht aus ihrem Bett, müssen gewickelt werden, liegen nur da, starren an die Decke oder schreien wie Säuglinge. Sie werden mit Brei gefüttert und Ernst darf manchmal helfen. Auch den Martin füttert er ab und zu. Er ist der Liebling der Schwestern, weil er einen blonden Lockenkopf hat wie ein kleiner Engel, auch wenn er die ganze Zeit hin und her wippt. Ihn zu füttern ist nicht leicht, weil er immer so rumhampelt und nie ruhig liegt. Dazu sabbert er und wenn Ernst es schafft, ihm einen Löffel in den Mund zu schieben, läuft ihm der Brei links und rechts wieder raus.
Eines Tages beobachtet Ernst, wie der Faltlhauser an Martins Bett sitzt und ihm über den Kopf streichelt. Das ist das beste Mittel, Martin für ein paar Augenblicke ruhig zu kriegen. Der Direktor kommt zweimal die Woche zur Visite und die Oberschwester trottet immer wie ein Hündchen hinterher und macht auf einem Blatt Notizen.
Einmal bringt der Direktor mehrere Männer mit, einer in SA-Uniform, die anderen in weißen Arztkitteln so wie er selbst. Der Direktor zeigt den Männern die Station und lobt die Schwestern und die Anstalt, wie sauber hier alles ist und wie gut es den Kindern hier geht, obwohl sie so arm dran sind. Dann führt er den Besuchern die schlimmsten verkrüppelten Kinder vor, das sind Elsa und Richard. Elsa ist vier, hat einen Wasserkopf, so dick wie ein Kürbis, dabei ist ihr restlicher Körper ganz klein und zierlich. Kopf und Rumpf passen nicht zusammen. Sie liegt nur den ganzen Tag im Bett und wimmert leise vor sich hin. Manchmal, wie aus heiterem Himmel, gibt sie einen spitzen Schrei von sich. Richard ist sechs und verkrüppelt, die Füße und Hände sind verschieden lang und jedes zeigt in eine andere Richtung. Dazu schielt er, dass man nie weiß, wo er hinschaut und gibt nur kehlige Urlaute von sich. Man hört nur immer ein Uh-Uh von ihm, und wenn er sich aufregt, werden die Uh-Uhs lauter.
„Wir müssen überlegen, was an so einem Leben noch lebenswert ist“, sagt Faltlhauser.
Die anderen pflichten ihm bei. Nur ein junger Arzt fragt, „wie sollen wir entscheiden, was lebenswert ist und was nicht? Was gibt uns das Recht, lieber Gott zu spielen?“
Faltlhauser setzt sich zu Elsa ans Bett und streichelt ihr über den Wasserkopf und sie hört kurz auf zu Wimmern. Er sagt, „hier wäre es doch eine Erlösung.“
„Das steht uns nicht zu“, sagt der junge Doktor.
Faltlhauser ereifert sich. „Natürlich steht es uns zu, Herr Kollege, wir haben die Pflicht auszuwählen. Es ist besser, wenn wir unsere ärztliche Kunst für die Patienten aufsparen, die eine Chance auf Heilung haben. Die anderen sind doch nur noch sich bewegendes Fleisch ohne Geist.“
„Aber wir sind Ärzte, keine Richter.“
„Sie sind jung und Sie sind ein Idealist. Warten Sie noch ein paar Jahre, wenn Sie mal so lange in der Anstalt arbeiten wie ich, dann denken Sie anders.“
Der junge Doktor ist still und wirkt nachdenklich. Faltlhauser, der immer noch Elsas Wasserkopf streichelt, gibt der Wörle ein Zeichen und sie nimmt das Krankenblatt aus der Klemme an Elsas Bett. Martin, der zwei Betten weiter liegt, gibt einen Schrei von sich und fängt an wie wild zu wippen. Faltlhauser geht hin, hält ihm die Hand und redet beruhigend auf Martin ein, der auch sofort still wird. Die Wörle schaut den Direktor fragend an, aber der schüttelt den Kopf. Dann gehen die Ärzte.
Am nächsten Tag geht es Elsa schlecht. Sie hat die Augen geschlossen, als würde sie schlafen, dabei atmet sie schwer und laut. Am Nachmittag fängt sie an zu röcheln, eine Stunde später ist sie still.
„Jetzt muss sie nicht mehr leiden“, sagt die Wörle süßlich.
Schwester Erika schaut sie nur böse an, dann deckt sie Elsa zu und schnäuzt sich.
Als sie weg ist, geht Ernst zu Elsa und deckt sie wieder auf. Sie sieht anders aus als sonst, fast durchsichtig. Vorsichtig berührt er ihren Wasserkopf, aber der ist ganz kalt und erschrocken zieht er seine Hand zurück. Ihr ständiges Wimmern und die Schreie haben ihn oft aufgeregt, aber ihr Stillsein ist noch viel schlimmer.